
Grund zur Freude: JournalistInnen entdecken (endlich) Marketing für sich
Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel von James Breiner erschien ursprünglich auf Entrepreneurial Journalism. Abonnieren Sie jetzt seinen Newsletter!
Wie kann es Anlass zum Optimismus geben, während so viele Dinge in der Politik, Wirtschaft und Umwelt derzeit schiefläuft? Weil Optimismus uns darauf vertrauen lässt, dass wir etwas verändern können. Wie ich zu sagen pflege: Neuer Tag, neue Chancen.
Als ich anfing, bei einer Zeitung zu arbeiten, hielten wir JournalistInnen Marketing für ein schmutziges, rein profitorientiertes Geschäft. Wir hielten uns für moralisch überlegen und zogen eine klare Linie zwischen der Redaktion und dem Marketing. Wir wollten uns niemals dazu herablassen, etwas zu schreiben, das den Werbekunden gefallen würde. Wir betrachteten uns selbst als reine JournalistInnen, unparteiisch, objektiv und der Suche nach der Wahrheit verpflichtet, wie auch immer sie aussehen würde.
Wie arrogant von uns.
Erst der Kollaps des altbewährten Geschäftsmodells ließ uns JournalistInnen erkennen, um wen es eigentlich geht - die LeserInnen, ZuschauerInnen und ZuhörerInnen. Jetzt, da die AnzeigenkundInnen von Print- und Rundfunkmedien auf digitale Medien umgestiegen sind, müssen sich Medienunternehmen plötzlich um finanzielle Unterstützung durch ihre NutzerInnen bemühen.
Wir müssen unsere NutzerInnen verstehen, zufriedenstellen und ihnen helfen, ihre täglichen Probleme zu lösen. Wir müssen der Gesellschaft den Wert des Journalismus insgesamt beweisen. Und dafür brauchen wir MarketingspezialistInnen. Neue Slogans und Werbekampagnen in Zeitungen spiegeln diese neue Mentalität bereits wider.
Qualität und Unabhängigkeit im UK
JournalistInnen und Redaktionen wird zunehmend bewusst, dass sich ihre Produkte nicht von allein verkaufen. Ihr Mehrwert muss kommuniziert werden. Und dieser Mehrwert darf nicht nur für den Einzelnen gelten sondern für die Gesellschaft. Denn angesichts der Propaganda, Fake News und Lügen, mit denen wir uns tagtäglich konfrontiert sehen, ist es umso wichtiger, vom eigenen gesamtgesellschaftlichen Nutzen zu überzeugen.
Der britische Guardian etwa bezeichnet sich als "public service", der vertrauenswürdig berichtet. Damit versucht man, sich sowohl als kommerzielles Unternehmen als auch als sinnstiftende Organisation für die Gesellschaft zu positionieren. Der Guardian wirbt darum, seinen Qualitätsjournlismus entsprechend zu würdigen - unter anderem mit dem Abschluss eines Digitalabos.


Ein Auszug: “Wir möchten Sie dazu einladen, sich den mehr als 1,5 Millionen Menschen in 180 Ländern anzuschließen, die uns finanziell unterstützen, damit wir für jeden verfügbar und unabhängig bleiben können. . . Jeder Beitrag, egal wie groß oder klein, stärkt unseren Journalismus und sichert unsere Zukunft. Unterstützen Sie den Guardian bereits ab 1€ - es dauert nur eine Minute. Vielen Dank!“
Die Nachricht funktioniert. Die Tageszeitung ist online kostenfrei verfügbar und hat eine Million zahlende LeserInnen hinzugewonnen, darunter 580.000, die einfach für die Sache spenden. Eine Version dieser Nachricht findet sich unter jedem Artikel des Guardian. Zusätzlich werden verschiedene Wege der Beteiligung angeboten.
In Frankreich wirbt man mit Unabhängigkeit
Der Slogan der investigativen Nachrichtenseite Mediapart, die gänzlich ohne Werbung auskommt, um unabhängig zu bleiben, ist mindestens genauso catchy. "Abonnieren Sie Mediapart. Mit dem Mut zur Recherche und der Pflicht zu berichten."

Für Mediapart ist diese Kampagne nicht nur Werbung sondern verspricht zugleich Qualität. Und das kommt an. Mediapart beendete das Jahr 2020 mit 218.000 digitalen Abonnements, einem Umsatz von 20 Millionen Euro und einem Gewinn von 6 Millionen Euro vor Abzug der Steuer. AbonnentInnen können einige Artikel auch mit Nicht-AbonnentInnen teilen, andere wiederum sind auch ohne Paywall abrufbar.
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Recherche über den Präsidenten Polens
Für unabhängige Medien spitzte sich die Lage in Polen wie in anderen Ländern Mittel- und Osteuropas zuletzt zu. Rechtsradikale Bewegungen nutzen die Einwanderungsskepsis im Land, schüren nationalistische Stimmung und diffamieren zunehmend kritische Medien.
Um diesem Trend in Polen entgegenzuwirken, kombiniert die größte Zeitung des Landes, Gazeta Wyborcza, aggressives Marketing unter Betonung ihrer redaktionellen Qualität.

Der Jahresabschlussbericht der Zeitung (auf Englisch) feierte die "zahlreichen journalistischen Erfolge. . . einschließlich die Auszeichnung zum Journalist des Jahres für den in Belarus inhaftierten Andrzej Poczobut.” Die JournalistInnen der Wyborcza, heißt es dort weiter, "haben die Misshandlungen eines jungen Ukrainers durch Breslauer Polizisten, und die Herzlosigkeit der Grenzbehörden, die die Flüchtlinge in die Wälder zurückdrängen, festgehalten. Sie haben die Karriere des Vorstandsvorsitzenden des polnischen Mineralölkonzerns PKN Orlen, Daniel Obajtek, beleuchtet und den Betrug des polnischen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki aufgedeckt, der mit dem Verkauf kirchlicher Immobilien ein Vermögen gemacht hat."
Auch folgt die Zeitung dem Trend, Themen zu behandeln, die für die Menschen in den jeweiligen Gemeinden und Regionen relevant sind. Wyborcza hat nach eigenen Angaben 33 lokale Websites im ganzen Land. Die Zeitung verweist zudem stets auf ihren Fokus, Nachrichten und Informationen durch neue Technologien und Formate zugänglich, nutzbar und relevant zu machen.
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In Spanien sind digitale Startups erfolgreich
In Spanien, wo ich die vergangenen beiden Jahre gearbeitet habe, haben zwei Startups, El Confidencial and elDiario.es, es geschafft, sich zwischen den populärsten und renommiertesten Nachrichtenseiten zu behaupten, glaub man dem jährlichen News Report von Reuters.

In seiner "Who we are"-Section (auf Spanisch) benennt El Confidencial sein Gründungsprinzip von vor 20 Jahren, "das Recht der Bürgerinnen und Bürger auf die Wahrheit zu verteidigen, das heute wichtiger ist denn je." Seinen Auftrag erklärt das Unternehmen weiterhin damit, "einen Beitrag zum Aufbau einer freieren und besser informierten Gesellschaft zu leisten." Auf der Seite werden darüber hinaus die Werte von El Confidencial, die bisher wirkungsvollsten Beiträge sowie die Teams der Redaktion und Geschägftsleitung vorgestellt.
Und dennoch: El Confidencial ist ein kommerzielles Unternehmen. Die Seite hat sich seit jeher hauptsächlich auf Finanz- und Wirtschaftsnachrichten konzentriert, gleichzeitig aber seine Reichweite durch diverse andere Berichterstattung ausgebaut. Sie kann 21 Millionen monatliche NutzerInnen hinter sich versammeln. Bisher machte das Unternehmen seinen meisten Umsatz zwar durch Werbung, führte jedoch vor zwei Jahren ein Premium-Abo ein, welches inzwischen 20.000 AbonnentInnen für 59 Euro (67 US-Dollar) pro Jahr nutzen.
PartnerInnen statt AbonnentInnen Die 2012 ins Leben gerufene Seite elDiario.es gehört vollständig den JournalistInnen, die für sie arbeiten. Zwar schaltet das Portal auch Werbung, ergänzt seine Einnahmen jedoch durch freiwillige Beiträge von "PartnerInnen" (socios), die, wie die SpenderInnen beim Guardian, einen beliebigen Betrag zahlen können.
Der gewünschte Betrag liegt dabei bei 80 Euro (90 Dollar) pro Jahr. Während der Corona-Pandemie startete das Unernehmen eine Marketingkampagne, die die Zahl der zahlenden PartnerInnen um mehr als 40% auf 61.000 erhöhte (Quelle in spanischer Sprache). Sein Slogan lautet: "Wir brauchen Ihre finanzielle Unterstützung, um einen rigorosen Journalismus mit sozialen Werten betreiben zu können" (siehe Grafik).

Die Einnahmen durch PartInnnen übersteigen inzwischen die Werbeeinnahmen des Onlinemediums. Ich selbst bin seit drei Jahren zahlendes Mitglied.
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Nicht nur Nachrichten, sondern Nachrichten verstehen
Alle bisherigen Beispiele zeigen, wie wichtig eine freie und unabhängige Presse in Demokratien ist. Ein erfolgreiches digitales Startup in den Niederlanden, De Correspondent, geht einen besonderen Weg. De Correspondent hat sich durch seine tiefergehende Auseinandersetzung mit aktuellen Themen einen Namen gemacht. Obwohl nur 23 Millionen Menschen auf der Welt niederländisch sprechen, hat De Correspondent es geschafft, 70.000 Menschen davon zu überzeugen, 70 Euro (80 Dollar) pro Jahr für eine "Mitgliedschaft" zu zahlen.
De Correspondent beschreibt sich selbst auf seiner Website als "die tägliche Medizin gegen die Wahnvorstellungen des Tages" und als "werbefreien Journalismus, der Ihnen hilft, die Welt besser zu verstehen...". [W]ir denken Journalismus neu. Wir erzählen fesselnde, tiefgründige Geschichten, die Ihnen helfen, die Nachrichten besser zu verstehen."
Trotz Paywall können AbonnentInnen manche Artikel mit ihren FreundInnen und FollowerInnen teilen.
Allerdings schadete das Unternehmen mit der verpatzten Einführung einer englischsprachigen Ausgabe, mit der man ein größeres internationales Publikum ansprechen wollte, seinem guten Ruf. Zwei der Leiter dieses Projekts, das 2020 verworfen wurde, beschreiben im Nieman Lab die Gründe für sein Scheitern. Die niederländische Ausgabe hingegen sorgt weiter für Furore.
Vertrauen und Demokratie in den USA
Über den ehrgeizigen Vorstoß der New York Times, 10 Millionen digitale Abonnements erreichen und eine internationale Publikation werden zu wollen, ist bereits viel geschrieben worden. Die Marketingkampagnen der Tageszeitung für ihre Abonnement-Möglichkeiten sind spezielle an NutzerInnen gerichtet, die hoffen, in der Flut von Fake News vertrauenswürdige Nachrichten zu finden. Aber es werden auch separate Abonnements für die berühmten Kreuzworträtsel und ein umfangreiches Archiv mit Rezepten angeboten.
In den Werbepausen des Podcasts "The Daily" erinnern verschiedene Times-ReporterInnen die ZuhörerInnen daran, dass die kostenpflichtigen Abonnements dazu beitragen, die kostspieligen Recherchen zu finanzieren, für die die Zeitung bekannt ist.

Die Werbung der Times unterstreicht den Wert von vertrauenswürdigem Journalismus: "Die Wahrheit ist es wert" und "Ihr Abonnement hilft unseren Journalistinnen und Journalisten, die Wahrheit zu finden". Mein digitales Abo kostet 17 Dollar im Monat, beziehungsweise 204 Dollar im Jahr. Ob es das wert ist? Diese Frage stelle ich mir jeden Monat aufs Neue. Und bisher lautete die Antwort stets Ja.
Mehr von The Fix: Die Abonnementstrategie der NYT und warum das Modell nur schwer zu kopieren ist
Die Demokratie verteidigen
Jeff Bezos, der Co-Gründer und frühere Vorsitzende von Amazon, kaufte vor neun Jahren die Washington Post und hat seitdem Millionen in neues Personal und neue technologische Anschaffungen gesteckt. Die Tageszeitung konkurriert mit der Times um dasselbe englischsprachige nationale und internationale Publikum.
Es war Bezos, der der Post empfahl, ihre Abonnementpreise so niedrig wie nötig zu halten, um eine möglichst große LeserInnenschaft anzulocken. Ich habe für einige Jahre 60 Dollar jährlich dafür bezahlt. Zuletzt hatte die Post schätzungsweise drei Millionen Abonnements - wie viele davon digital sind, ist nicht bekannt.

Der Werbeslogan der Post, "Im Dunkeln stirbt die Demokratie", erscheint mir etwas zu abstrakt, um tatsächlich fruchten zu können. Er wirkt auch ein wenig selbstherrlich, selbst wenn ich mit dem Kern der Aussage einverstanden bin. Aber die Kampagne scheint Wirkung zu zeigen. Noch 2017 hatte die Post nur eine Million digitale Abonnements zu verzeichnen.
Treue AbonnentInnen und Umsatz
Für kleine unabhängige Medien sind diese Erfolgsgeschichten eine klare Botschaft: Redaktionen müssen eng mit dem Marketing zusammenarbeiten, um eine treue LeserInnenschaft aufzubauen. Warum? Weil Marketing-SpezialistInnen wissen, wie man Daten über die Bedürfnisse, Wünsche und Probleme der NutzerInnen sammelt und analysiert.
Marketing kann dabei helfen, NutzerInnen anzulocken und die Häufigkeit und Dauer ihres Besuchs auf der Website, ihre Einbindung, zu erhöhen. Treue und inegrierte NutzerInnen neigen eher dazu, für die von einem Unternehmen angebotenen Produkte und Dienstleistungen auch zu bezahlen. In der heutigen Zeit, in der digitale Werbeeinnahmen von Technologieplattformen verschlungen werden, sind Einnahmen durch NutzerInnen die beste langfristige Option für Medienunternehmen.
Das profitorientierte Modell hochwertig aufbereiteter Nachrichten wird so durch das Modell eines "public service" ergänzt und manchmal auch ersetzt. Derzeit sind die Einnahmen aus dem zweiten Modell noch gering. Aber sie wachsen stetig. Hybride Modelle mit öffentlich-privater Zusammenarbeit sind im Kommen.
Und die neuen Marketingbotschaften, die bei Menschen, denen die Demokratie am Herzen liegt, Anklang finden, betonen den Wert des öffentlich-rechtlichen Journalismus. Deshalb müssen wir JournalistInnen unsere Einstellung zum Marketing grundlegend ändern. Es sollte unser bester Freund werden.
Abos, für die ich nicht bezahlen würde
Viele Medien haben sich aus purer Verzweiflung für das Abonnement-Modell entschieden, als die Werbeeinnahmen allmählich versiegten. Nun sind sie gezwungen, durch ihre NutzerInnen Einnahmen zu erzielen. Es sind jedoch dieselben Medienunternehmen, die zuvor rücksichtslos Personal und Qualität abgebaut haben, um die Gewinnspanne hochzuhalten.
Der Columbus Dispatch, für den ich elf Jahre lang gearbeitet habe, entlässt seit Jahren altgediente JournalistInnen, um Kosten zu sparen. Die lokale Berichtserstattung wurde auf ein oberflächliches Niveau heruntergefahren.

Der Dispatch schaltete in letzter Zeit Anzeigen, die darum bitten, ihren Lokaljournalismus mit einem digitalen Abonnement zu unterstützen. Die Eigentümer der Tageszeitung, die von den Entlassungen profitiert haben, versuchen nun, davon zu überzeugen, dass sie einen Dienst für die Gesellschaft leisten. Würde ich für das geringe Angebot bezahlen?
Im Leben nicht. Der Untergang von großen Tageszeitungen wie dem Dispatch hat jedoch auch etwas Positives. Er schafft neue Möglichkeiten für Lokalmedien, sich zu behaupten.
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Foto von Stéphan Valentin auf Unsplash
